...ich war nie ein Kind…
In einem Interview, das die Journalistin Margrét Sveinbjörnsdóttir mit dem Historiker Sigurður Pétursson in der Rundfunksendung „Ich heiße Karítas Skarphéðinsdóttir“ führte, stellte sie ihm die Frage, ob den Leuten in den Westfjorden das Leben und Werk von Karítas Skarphéðinsdóttir ein Begriff sei. Seine Antwort war ein schlichtes Nein. Frauen aus dem einfachen Volk in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind nicht Teil des großen Uhrwerks der Geschichte, das unablässig tickt, Sekunde um Sekunde, Minute um Minute, Stunde um Stunde. Oder von Jón Baldvinsson zu Jón Baldvin Hannibalsson.
Karítas ist ein Symbol für den Ort und die Ideologie ihrer Zeit. Sie ist der Körper einer Frau, der keine Selbstbestimmung zugedacht war. Mit 17 Jahren wurde sie von ihrem Vater im Tausch mit einem Haus verheiratet. Rosi Braidotti, eine Theoretikerin des Feminismus, erörtert in ihrem Buch Metamorphosen die Konsequenzen daraus, einer undefinierten Minderheit anzugehören. Sie schreibt, der Körper stünde im Zentrum politischer Gewalt, sowohl im großen volkswirtschaftlichen (Makro-) Zusammenhang als auch im kleinen persönlichen (Mikro-) Zusammenhang. Dies sei die Kraft, die die Weltwirtschaft auf Kosten der Körper der Bürger vorantreibe. Die große Masse ist in der Gewalt dieser Kräfte und hat dadurch die Rolle einer Episode.
Der Schriftsteller Milan Kundera spricht in seinem Buch Die Unsterblichkeit über die Episode nach aristotelischen Kriterien:
„Die Episode ist ein wichtiger Begriff in der Poetik des Aristoteles, der die Episode grundsätzlich ablehnt. Episodische Ereignisse sind seiner Auffassung nach die schlimmsten aller Ereignisse (aus Sicht der Poetik). Da die Episode keine notwendige Folge dessen ist, was vorher passiert ist, und keine Konsequenzen nach sich zieht, steht sie außerhalb der Ereignisse, die die Geschichte ausmachen.“
Karítas bezog bewusst Position zu ihrem Privatleben und zu den äußeren Umständen. Sie beschloss, den Kampf um Veränderungen in die eigene Hand zu nehmen, sowohl in ihrem persönlichen Leben als auch in Auseinandersetzung mit politischen und gesellschaftlichen Autoritäten und Institutionen. Halldór Ólafsson, ihr Weggenosse aus der Arbeiterbewegung, würdigt sie in seinem Nachruf im Þjóðviljinn (Der Volkswille) vom 9. Januar 1973 mit folgenden Worten: „Man wird Karítas wohl als eine Frau von durchschnittlicher Größe angesehen haben, sie war schlank und behände. Sie achtete stets auf ihre Kleidung und wurde dafür von Lagerarbeitern und anderen verspottet, die fanden, dass einfache Leute kein Recht darauf hätten, anständig angezogen herumzulaufen. Sie gehörte zu den Menschen, die sich ihren Stolz vom Elend nicht nehmen ließen. Sie war wortgewandt und hielt ihre Reden freimütig und couragiert.“ Die Person Karítas Skarphéðinsdóttir hatte ganz offensichtlich kein Interesse an der Rolle einer Episode. Ihre Interaktion mit und Aktivität in ihrem Umfeld hätten ihr eigentlich schon zu Lebzeiten Unsterblichkeit verschaffen und ihr einen dauerhaften Platz auf dem Ziffernblatt der isländischen Geschichte sichern müssen.
Kundera nimmt seinen Ausgangspunkt bei Aristoteles, fügt aber hinzu: „Keine Episode ist a priori dazu verdammt, für immer eine Episode zu bleiben, denn jedes, auch das unbedeutendste Ereignis, birgt in sich eine verborgene Möglichkeit, früher oder später zur Ursache anderer Ereignisse zu werden und sich so in eine Geschichte oder in ein Abenteuer zu verwandeln.“
Ich nehme nicht an, dass es Karítas’ Absicht war, ein Abenteuer zu hinterlassen, aber eine Geschichte hat sie uns hinterlassen, eine Geschichte, die wir in der neuen Ausstellung des Heimatmuseums erzählen möchten: ihre Verhandlungen mit den herrschenden Kräften, die von kurz- und langfristigen Erfolgen in Form verbesserter Lebensbedingungen für die arbeitenden Klassen gekrönt waren. Der Zeiger der Geschichtsuhr ist gerichtet auf eine Frau, die nur eine Episode hätte sein sollen, die jedoch die Initiative ergriff in dem Bestreben, ihr Leben selbst zu bestimmen; eine nachvollziehbare Ereignisfolge von Karítas Skarphéðinsdóttir bis Björk Guðmundsdóttir.
Helga Þórsdóttir, Ausstellungsleiterin